Vor der Tür stand das Weihnachtsfest, man hatte sich kurz zuvor, als kein Verzögern einer Entscheidung mehr möglich war, darauf geeinigt, dass ich Heiligabend bei Mama verbringen sollte und den ersten Feiertag mit Papa.
Meine schöne Mama hatte das ganze Haus festlich geschmückt, überall glimmende Kerzen, silberne Glocken und fein mit glitzerndem Lametta bestäubte Tannenzweige, es roch sogar nach Weihnachten, nach Essen und Backen, nach Zimt und schwerem, süßem Nadelholzduft. Der Klang einer sanften Stille hing in der Luft. Im Wohnzimmer stand ein wunderschön geschmückter kleiner Baum, unter dem ich viele Päckchen fand. Ich musste unwillkürlich an den zusammensteckbaren Plastikbaum in meinem Block C2B im Gefängnis denken, an das kleine Bäumchen, das wir mit angemalten leeren Toilettenpapierrollen anstatt Kugeln, mit bemalten Papierfetzen anstatt Lametta und Milchflaschenringen statt Firlefanz schmückten. Ich weinte lautlos, ohne es zu zeigen.

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Meine Begegnung mit meinem Sachbearbeiter beim Arbeitsamt in Neustadt, kurz nach meiner Rückkehr aus dem Gefängnis, bleibt mir unvergesslich. Es war etwa vier Monate nach meiner Entlassung, als ich vor ihm saß, eine Routine-Einladung, dachte ich anfangs.
Mein Sachbearbeiter sagte: „Also, wir müssen jetzt Arbeit für Sie finden, Frau Mohr.“ Sein Tonfall erschien mir merkwürdig, machte mich misstrauisch.
„Gerne, aber wie soll das funktionieren, kein Mensch stellt mich ein, Sie erinnern sich vielleicht: Ich komme gerade aus dem Gefängnis.“
„Ach, das vergesse ich immer, sie sehen so überhaupt nicht danach aus“, antwortete er.
„Ich weiß, aber mit meinem Lebenslauf bekommt man selten einen Job, speziell in Zeiten wie den momentanen.“
„Da gibt es einen, den könnte ich Ihnen sofort vermitteln, da wird jeder eingestellt, denn die meisten kündigen nach spätestens vier Wochen. Und zwar beim Hühner-Fred.“ Er schmunzelte heimtückisch.
„Wer um alles in der Welt ist der Hühner-Fred?“, fragte ich ungläubig. Kurz überlegte ich, ob der Mann einen Humor hatte, der mir gerade entging.
„Sie kennen den Hühner-Fred nicht? Der steht in einem kleinen Wagen vorm Supermarkt in Haßloch und macht Brathähnchen. Nach einem Tag in diesem Wagen stinken Sie so nach Fett wie noch niemals im Leben zuvor.“
Da beschloss ich, mich umzuschauen, mich selbstständig zu machen, begann mich neu zu definieren. Also ehrlich: Hühner-Fred!

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Dann kam ein Job, der interessant zu werden schien, den konnte ich unmöglich ablehnen, was ich allerdings besser getan hätte, denn erstens trog der Schein und zweitens überschätzte ich mich. Ich war eben doch nicht die bezaubernde Jeannie, die einfach mit den Fingern schnippte und schon erfüllten sich ihre Wünsche – bling-bling – einfach so.
Der Job bestand daraus nach Nizza auf ein Boot als private Begleiterin zu gehen. Dieses Mal bat der Gast um eine gute Köchin. Sowieso konnte ich gerade Geld gebrauchen. Zwar konnte ich nicht kochen und schon gar keine Haute Cuisine, aber ich war doch die Meisterin in der Kunst des Improvisierens, so überzeugte ich mich selbst und nahm das vielversprechende, verlockende Angebot einfach an.
Eigentlich war ich an jenem Tag richtig glücklich, weil ich vor meiner Abreise den ersten Scheck für mein Buch Pixie erhalten hatte, das erste verdiente Geld durch die eigene Schriftstellerei. Gerne hätte ich mit Howard eine Flasche prickelnden Champagner zum überwältigenden Anlass gekillt. Aber ich konnte mich schon immer auch gut alleine amüsieren, das lernt man als Einzelkind sehr schnell und nach fünf Jahren Gefängnis hat man diese Fähigkeit bis zur Perfektion verinnerlicht.
Der Kapitän erwartete Maria am Flughafen, im Aeroport Nice Côte d´Azur. Seine Statur war eher schmächtig, ein dünner, dunkelbrauner Perser mit einem Dreitagebart und mit mehr grauen als schwarzen Haaren. Die Flughafenhalle war gut klimatisiert, es herrschte emsiges Treiben, Menschen schwirrten aufgescheucht in die verschiedensten Richtungen, sich gegenseitig nicht beachtend, während dieser merkwürdige Perser seinen Escort misstrauisch taxierte. Das ungleiche Paar ging zum Bus vor der Eingangshalle. Die beiden redeten mal Englisch und mal Französisch miteinander, aber die Kommunikation klappte hervorragend.
[…]
Leider entpuppte sich dieser Kapitän schnell als griesgrämiger alter Mann, ein Motzkopf. Dazu kam, dass Marias fideler Plan nicht so leicht durchführbar war wie gedacht. Ja klar, sie war mit einem perfekten Plan gekommen.
Maria hatte sich einen cleveren Menüplan ausgedacht und musste dafür die notwendigen Zutaten einkaufen, also sagte sie zum griesgrämigen Kapitän: „Könnte ich bitte Geld bekommen, um einkaufen zu gehen?“ Während sie es aussprach, drehte sie sich kess leicht zur Seite, sie standen an Deck, sodass der Kapitän der schicken Jacht nebenan sie genau verstehen konnte. Vielleicht würde er auf einen Kaffee mitkommen, er sah nicht schlecht aus, dachte Maria.
Aber ihr persischer Kapitän antwortete schnell: „Ich begleite dich, weil ich mich in Nizza auskenne und damit ich dir beim Tragen helfen kann.“ Dabei schaute er zum Himmel, machte keinen begeisterten Eindruck, aber es war irgendwie klar, dass er keine Widerrede dulden würde. Er war der Mann, der von einer Frau sowieso nichts annahm, schon gar nicht von einer Blondine.
Mist!, dachte Maria. Nicht nur, weil der Kaffee-Plan mit dem Süßen von der Nachbarjacht nicht klappte, sondern vor allem, weil sie geplant hatte, das Supermenü für den heutigen Abend fertig zu kaufen. Auch Gourmetspeisen gibt es heutzutage als Fertigprodukte wie Carpaccio aus Rind und Lachs aus dem Tiefkühlfach, Pesto in der Dose, Nachspeisen bei der Konditorei oder auch aus dem Tiefkühlfach, Fertigsoßen und diverse Suppen, zusätzlich plante sie ein paar tolle exotische Gewürze zu kaufen, um die Gerichte zu verfeinern, ihnen einen individuellen Geschmack zu verpassen, der nicht mehr an Fertiggerichte denken ließ. Schon wär ein Gourmetmenü gezaubert gewesen. Denn Maria war als Gourmetköchin engagiert und das wurde hoch dotiert.
[…]
Trotzdem war das Essen, das sie zauberte, mittelmäßig, einfach nicht super gut, aber sehr arbeitsaufwendig – Köche leisten enorme körperliche Arbeit, das war Maria vorher nicht klar gewesen. Um ehrlich zu sein, brannte ihr am ersten Tag beim Dinner das Steak an, dann sah man dem Tiramisu, obwohl sie mit dem Löffel darin herumgematscht hatte, an, dass es aus dem Kühlregal kam. Am zweiten Tag hatte sie dem Salat viel zu viel Essig und Salz beigemischt und am dritten Tag lies der Fisch auch zu wünschen übrig und das Gemüse aus der Dose wollte einfach nicht wie frisch gekauftes aussehen.
[…]
Niemals wieder würde sie einen solchen Auftrag annehmen!

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Mein Buch Pixie war beinahe fertig lektoriert. Wenn man vorher nie damit zu tun hatte, hat man keine Vorstellung von dem gewaltigen Arbeitsaufwand, der in solch einem Buch steckt, speziell beim Debüt, da man noch so viel lernen muss. Das ist genau wie ins Gefängnis zu kommen: Beim ersten Mal ist das eine völlig neue, schwierige Situation, aber beim nächsten Mal wird es schon einfacher, das hatten mir alle gesagt, die mehr als einmal im Gefängnis waren.
Vielleicht erinnerte mich der plätschernde, zaghafte Regen, den ich vorm Fenster beobachtete, an meine letzte Reise bevor ich ins Gefängnis kam. Bei strömendem Regen verließ ich Deutschland im Mai 1999. Damals hatte ich keine Ahnung, dass der verregnete Schleier Deutschlands für mehr als fünf Jahre das Letzte sein würde, was ich von meiner Heimat zu sehen bekam.
Wir stiegen hastig in das Flugzeug, um dem nörgelnden Nass zu entkommen. Mein bester Freund Carl war mal wieder mein treuer Reisebegleiter, dieses Mal nach Afrika. Endlich auf dem Sitzplatz – man durfte schon damals nicht mehr im Flugzeug rauchen – machte ich die Flasche Tequila auf, die ich im Duty-free-Shop gekauft hatte. Es wurde uns lausiges Flugzeugessen in einem Plastikcontainer und irgendwelche Weine in weißen Plastikbechern gereicht. Zwischenlandung war in Brüssel, wo ich zu meinem Erstaunen beobachtete, wie genüsslich Rauchende friedlich neben schmatzenden Nichtrauchern saßen. Was für ein rarer und kostbarer Anblick. Und man staune: Sie haben sich nicht gegenseitig umgebracht.
Von Brüssel aus ging es weiter Richtung Benin, Elfenbeinküste, wo ich meinen kolumbianischen Freund treffen sollte, mit dem wir einige Kilos Kokain gegen ein paar Dollarscheinchen tauschen wollten. Wir hatten mittlerweile bereits einige erfolgreiche Transaktionen hinter uns. Das Geld war an meinem Körper in einem Gürtel.
Fast die ganze Flasche Tequila hatte ich schon getrunken, machte mir schon bittere Vorwürfe, dass ich noch eine weitere hätte kaufen sollen, da konnte ich nur noch den Kopf zur Seite meines mir unbekannten Sitznachbarn drehen und es ergoss sich ein Strahl klebriger Kotze über seine maronenfarbene Krawatte, seine Hose in derselben Farbe und über sein jetzt nicht mehr weißes Hemd. Es war mir sehr peinlich. Ich stammelte etwas von wegen Entschuldigung, als er steif aufstand und zur Toilette lief. Komischerweise sagte er kein Wort zu mir und verzog nicht mal das Gesicht.

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